Chiron, der verwundete Heiler

Chiron oder auch Cheiron ist eine mythologische Gestalt aus dem alten Griechenland. Sein Name bedeutet übersetzt Hand; denn diese ist es, die zu heilen vermag. Chiron hat die Erscheinungsform eines Zentauren und verkörpert auch einen aufgestiegenen Meisterheiler. Diese Mythe wäre wohl nicht griechisch, wenn sie nicht auch dramatisch wäre.

Schon seine Zeugung verlief nicht ganz einfach und schon gar nicht einvernehmlich. Der Titan und Herrscher über die Zeit namens Kronos / Chronos (Saturn) hatte es auf eine bestimmte hübsche Nymphe (ein Natur- bzw. Wasser- bzw. Baumwesen) abgesehen. Da sie keine Lust auf ihn hatte versuchte sie ihn zu täuschen indem sie sich in eine Stute verwandelt hatte. Chronos war nicht dumm und schwupps, verwandelte er sich ebenfalls und zwar in einen Hengst. Und so kam es dann zur Zeugung.
Als Chiron dann geboren wurde, war seine Mutter gar nicht erfreut und stieß ihn aufgrund seiner Erscheinung ab und auch Chronos kümmerte sich nicht.
So kommen wir zur frühkindlichen Verwundung durch Ablehnung und Vernachlässigung.

Chiron hatte Glück im Unglück, denn der allseits talentierte Sonnengott Apollo nahm sich seiner an und brachte ihm die Künste der Heilung, Musik, Jagd, Astrologie, Prophesie, um nur die wichtigsten zu nennen, bei. So entwickelte Chiron sich zu einem meisterhaften Arzt und Lehrer. Er selbst trainierte dann etliche Helden der griechischen Mytholgie. Unter ihnen war Iason, Achilleus, Asklepios (der Gott der Heilung selbst!), Odysseus, Aeneas und viele andere.

Er lebte in einer Höhle am Fuße eines Berges zusammen mit seiner Frau und sie hatten einen Sohn und mehrere Töchter.
Die Zentrauren, die halb Pferd und halb Mensch sind, waren eigentlich durchwegs gerissende, triebhafte, brutale und ungehobelte Wesen; außer eben Chiron. Er war der edelste und vornehmste von ihnen. Er galt als weise und gerecht.

Eines Tages wurde Chiron schicksalshaft verwundet am Bein oder Knie. Bei einem Fest und Duellschaukampf traf ihn versehentlich ein vergifteter Pfeil des Herakles und das obwohl Chiron einen Streit schlichten wollte und dazwischen ging. Diese Wunde sollte sein Schicksal besiegeln, denn selbst er als Meisterheiler konnte sich nicht selbst davon heilen. Er litt Schmerzen und fand keine Linderung, so dass er sich nach einiger Zeit den eigenen Tod wünschte. Leider konnte er als halbgöttliches Wesen nicht sterben um sich von seiner Qual zu befreien.

Szenenwechsel: Der menschenliebende Gott und Kulturbringer Prometheus war an einen Fels im Gebirge gekettet. Natürlich wurde dies durch den herrschsüchtigen Jupiter / Zeus veranlasst. Dies geschah deshalb, weil Prometheus den Menschen viel mehr Rechte, Vergnügungen und Lohn zusprechen wollte, was Zeus zuwider war.
Prometheus war übrigens auch derjenige, der den aus Wasser und Lehm geformten Menschen Leben und Geist verlieh; je nach Version dieses Mythos geschah dies entweder durch Feuer, durch Nektar aus einer Schale oder durch einen Schmetterling auf den Kopf.
Außerdem war Prometheus der „Feuerdieb“ – denn auch er war es, der eben das Feuer zu den Menschen verbotenerweise brachte und für Zeus war das schon zu viel Macht für die Sterblichen.
Als Prometheus also angekettet war, kam dann jeden dritten Tag ein Greifvogel herbei um ihm die Leber herauszureißen, die ihm zwar wieder als Unsterblicher nachwuchs, aber die Qualen der Schmerzen hörten so nicht auf. Nur unter einem Umstand sollte er erlöst werden können: Sobald einer der unsterblichen Götter sein oder ihr Recht auf Unsterblichkeit für ihn aufgeben würde, erst dann würde er schließlich frei kommen.

Zurück zu Chiron: Er gab aufgrund der Schmerzen sein Leben für das des Prometheus. Dies war zwar keine Märtyrertum im christlichen Sinne, sondern es war die Wunde, die niemand heilen konnte um ihn zu erlösen. Es war eigentlich eine ungewollte und unfreiwillige Heldentat um das eigene Leben für ein anderes einzutauschen. Und so rutschte Chiron schließlich erst in das sonnenlose Schattenreich – in die Unterwelt des Tartaros herab – aber nicht für lange. Denn die Götter erhoben ihn gleich für seine Taten, Leistungen und weisen Verdienste in die Oberwelt und ehrten seine Meisterhaftigkeit in Form des Sternbilds Schütze / Sagittarius. Der zentaurische Schütze ist uns eine Erinnerung und eine Homage an Chiron.

Der Schütze in seiner eigenartigen Form als Zentaur-Mischwesen (im Gegensatz zu den anderen eindeutigeren Symbolen der Tierkreiszeichen wie Waage, Löwe oder Skorpion) soll genau das symbolisieren: den Geist aus der Norm aufzuwecken, aufmerksam zu machen und ihn durch diese Abnormität zu öffnen!

Die Moral von der Geschicht‘: Der Psychiater und Psychoanalytiker Carl Gustav Jung prägte im 20. Jahrhundert den Begriff vom verwundeten Heiler. Er war auch angetan von der Interpretation davon, dass die emotionalen und spirituellen Wunden möglicherweise der beste Weg sind einen Heiler auszubilden. Hierbei bezieht er sich wohl auf die Ablehnung und Vernachlässigung in Chirons Kindheit durch seine leiblichen Eltern. Daraus entwickelt sich dann für ihn aber ein Mitgefühl, auch anderen Wesen aus dem Leid zu verhelfen.

Die Geschichte von Chiron ist ein Drama und Dilemma aber erzählt auch von Hoffnung, Aufstieg und Krönung. Denn er ist zwar einerseits ein Meisterheiler aber letztendlich nicht selbst dazu in der Lage seine eigene schicksalshafte Wunde zu heilen. Erst sein Opfer für jemand anderen bedeutet Erlösung – sowohl für den geretteten Prometheus als auch für sich selbst; denn schließlich ist dies dann sogar sein persönlicher Aufstieg: Chirons Wunde ist wie eine Art Portal in eine andere Bewusstseinsdimension, die über das Persönliche hinausgeht. Die Heilung bestehtalso aus dem Paradoxon eine Wunde zu akzeptieren; denn erst durch die Akzeptanz kann die Verletzung zu höheren Stufen und zu einer unerwarteten Art von Transformation geführt werden; persönlich und noch viel mehr kollektiv. Es beschreibt diese Geschichte also Schlüssellehren des Lebens, die zu einen Stufenaufstieg führen – wie ein Upgrade, wie ein Level-Up!